FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Nicolai Kudielka, Lessano Negussie und André May sind die drei von der Bootsstelle. An der Kasseler Schlagd haben sie in einem ausgedienten Ausflugsschiff auf der Fulda einen Import-Export-Laden eröffnet. Der schwimmt mitten in der Stadt und doch im Abseits. Denn hierher verschlägt es nur wenige Bürger und Besucher, obwohl es einer der schönsten Orte Kassels ist - zwischen dem Mittelalter mit dem Rondell und dem Renthof im Westen der Fulda und der neuen Unterneustadt, der kritischen Rekonstruktion der mittelalterlichen Stadt mit der Architektur der Gegenwart, auf der Ostseite der Fulda gelegen. Der Renthof steht dort an der Fulda ein wenig so wie der Mont Saint-Michel im Meer - aber ohne Touristen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die in die Stille zurückgefallene Schlagd in der Welt der eigenen Gedanken wieder zum Leben zu erwecken, mit den Schiffen, die hier einst gelöscht wurden, den Fuhrwerken, die die Ladung brachten oder abfuhren, und all dem Volk, das es an einen Hafen spült. Darum ist es auch ein verlockender Ort, und die Ware, für die die drei jungen Männer eine Börse geschaffen haben, macht offenbar süchtig. Sie handeln nicht, sondern sie organisieren einen Tausch. Wer hier einmal getauscht, wer selber Ware eingebracht und von der anderer gekostet hat, der ist dem Ort rasch verfallen. Die drei von der Bootsstelle locken die Passanten nicht nur mit Kaffee, Lemonaid (die heißt wirklich so), Wasser oder Bier auf ihr Schiff. Sie organisieren den Tausch von Wissen und Ideen, feiern Partys, machen Kino. May stammt aus Kassel. Er studiert an der traditionsreichen und international vernetzten Kunsthochschule visuelle Kommunikation. Er schätzt "die Freiheit, die Kassel bietet, alles umzusetzen, wozu man Lust hat", und die "Superumgebung", denn die Kunsthochschule liegt in der Karlsaue. Kudielka kommt aus Stuttgart, und Negussie kommt aus Berlin. Beide studieren Architektur. Negussie verweist auf die Konzentration auf das Wesentliche, die ihm das Studium in Kassel ermögliche, den unmittelbaren Kontakt mit den Professoren und die Freundschaftlichkeit unter den Studenten. Das Schiff ist das gemeinsame Abschlussprojekt des Studiums der drei, die sich in dem interdisziplinären Projekt "Dubai - Fakt und Fiktion" kennengelernt hatten. Sie malten sich aus, wie die Documenta im Jahr 2012 die Stadt verändern könnte, träumten von und suchten nach Orten, die sie im Documenta-Jahr als dem finalen Stadium ihres Studiums bespielen könnten, und sie machten sich Mut, dass es doch möglich sein müsse, mit wenigen Mitteln etwas aufzubauen, "das funktioniert". Das hatten schon einige Studenten vor ihnen bewiesen, denn an der Frankfurter Straße gibt es einige Projekte, Galerien und Lokale kreativer Studenten. Die drei verlangten zugleich nach einem Projekt, in dem sie aufgehen konnten. Auf der detektivischen Suche nach einem einzigartigen Ort gelangten sie an die Schlagd. Dort lag ein ausgemustertes Schiff einer Ausflugsflotte. Die drei entwickelten ein Szenario, mit dem sie die Eigentümer des Schiffs überzeugten, und sie holten die Universität - im wahren Sinne des Wortes - mit ins Boot, denn den dreien fehlte das Geld, das Schiff für die Dauer des Projektes von einem halben Jahr zu mieten. Plötzlich, dem selbstausgelösten Zugzwang folgend, waren die Studenten mitten im Projekt. Die Hochschule genügte als Unterstützer nicht. Am Ende gewannen die Studenten achtzehn Partner vom lokalen Elektronikladen bis zum Weltkonzern hinzu. Sie mussten rechtliche Fragen klären, lernten das Leben mit der Bürokratie kennen, begannen sich der Pressearbeit zu widmen oder stimmten sich mit Kunstklassen in New York ab, mit denen sie kooperieren. Seit April nutzen Professoren das Schiff für Lehrveranstaltungen, Konzerne holen ihre Mitarbeiter zu Workshops an Bord, Kunstmagazine laden zu Documenta-Events ein, und Künstler treten auf. Bis zum Herbst wird die studentische Mannschaft mehr als 130 Veranstaltungen am Ober- und Unterdeck geschaukelt haben. Bis vier Uhr in der Frühe wird auf dem Ausflugskahn innoviert und von 8 Uhr an weiter renoviert, zuvor aber klar Schiff gemacht. "Wir haben viel Arbeit. Es hört und hört nicht auf", sagt May. "Und wir haben keinen Plan", setzt Kudielka hinzu. Die Offenheit für Neues belohnt die drei immer wieder mit Überraschungen und Herausforderungen. "Aber alle Leute, die hier waren, sind begeistert. Sie fragen: Warum hat es keiner vor euch gemacht?", berichtet Negussie. Das ist wohl das größte Lob. "Jeder kann kommen", lautet das Credo der drei, die die Universität vom Campus mitten in die Stadt geholt haben. Das Publikum ist gemischt, wie es sich für eine Schlagd gehört. Die Studenten bewirten Professoren und Bierkutscher, als wirkte der Genius Loci fort. Bis zum Oktober, wenn das halbe Projektjahr endet, möchten die drei Studenten noch ihre ganze Energie in das Gedanken- Schiff stecken, dann das Erlebte, Erfahrene und Erlernte dokumentieren und als Abschlussarbeit publizieren. Die dreim sind guter Dinge, dass ihre schwimmende Import-Export-Börse "nicht nur während der Documenta funktioniert". "Für uns war es ein temporäres Projekt, aber die Uni denkt über den Kauf des Schiffes nach", sagt May.
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Bootsstelle